Beruf und Berufung, Veränderung als Lebensprinzip

35 Jahre Einheit, Wandel in Gesellschaft und Unternehmen – und warum Berufung neu gefragt ist

35 Jahre Einheit – und die Frage, was uns heute eint

Der 3. Oktober ist ein Tag der Erinnerung – aber auch ein Tag der Selbstprüfung.
Vor 35 Jahren wurde Deutschland politisch geeint. Heute stellt sich eine andere Frage: Was hält uns eigentlich noch zusammen – als Gesellschaft, als Unternehmen, als Führungskräfte, als Menschen in der Arbeitswelt?

Wir leben in einer Zeit, in der Veränderung zum Dauerzustand geworden ist – geopolitisch, wirtschaftlich, technologisch. Bundeskanzler Merz sprach in seiner Rede zum Tag der Deutschen Einheit von einer „einzigartigen Veränderungssituation“.

Doch inmitten all dieser Umbrüche fällt etwas anderes auf:
Wir sprechen viel über Arbeit, Erfolg und Karriere – aber immer seltener über Berufung.

Der Beruf dominiert. Berufung ist zur leisen Stimme geworden.

Veränderung als Lebensprinzip

Grund genug, neben all den offiziellen Feieranlässen auch nachenklich zu sein. Einheit 1990: radikaler Umbruch, voller Unsicherheit – und voller Aufbruch.
Heute erleben wir erneut Umbrüche, deren Dynamik größer ist als je zuvor.

Veränderung ist kein Ausnahmezustand mehr. Sie ist das neue Normal.
Ob in der Gesellschaft oder in Unternehmen: Wer Veränderung nur als Störung begreift, verliert Anschluss. Wer sie als Lebensprinzip akzeptiert, gewinnt Gestaltungskraft.

Doch genau diese Gestaltungskraft braucht etwas, das wir zunehmend verlieren: Berufung.

Beruf und Berufung – zwei ähnliche Worte, zwei Welten

„Beruf“ und „Berufung“ klingen nah verwandt – aber sie stehen oft gegeneinander.

  • Beruf: Karriere, Status, Sicherheit, tägliches Funktionieren. Heute oft verbunden mit einem ungesunden Kampf um Aufmerksamkeit.
    Er ist wichtig – aber häufig selbstbezogen.
  • Berufung: Sinn, Hingabe, Freude, Verantwortung.
    Sie entsteht, wenn wir etwas tun, weil es uns erfüllt – und weil es anderen dient.

Berufung hat viele Gesichter:

  • Hingabe, die sich nicht messen lässt, aber spürbar ist.
  • Freude und Interesse, die Energie freisetzen statt sie zu verbrauchen.
  • Verantwortung, die über das eigene Ziel hinausgeht.
  • Resonanz, die Beziehung und Wirkung schafft.
  • Orientierung an anderen, die das Ego relativiert.

Beruf ist, was wir tun. Berufung ist, warum und für wen wir es tun.

Heute aber – und das macht die Brisanz aus – leben viele Menschen fast ausschließlich im Beruf: effizient, sichtbar, erfolgreich. Doch innerlich leer. Berufung wird verdrängt, weil sie Zeit, Tiefe und Mut verlangt – drei Dinge, die in unserer Gegenwart oft fehlen.

LinkedIn als Brennglas

Man sieht diese Entwicklung nirgendwo klarer als auf LinkedIn, dem wichtigsten Social Media Netzwerk im Business:

  • Viele „konsumieren“ und lesen nur, wenige beteiligen sich.
  • Content-Massen, oft KI-gestützt, überfluten die Plattform – viel Output, wenig Dialog. Das gilt auch für viele von mir sehr geschätzten Kolleginnen und Kollegen, die ständig neue, hochwertige Impulse liefern, aber dadurch die Inflation hochwertigen Contents befeuern.
  • Es gibt zahllose Posts über Erfolg, Selbstoptimierung, Tools – aber kaum über Haltung, Sinn, Verantwortung.
  • Es wird überwiegend gesendet, aber nur wenig zugehört – und noch weniger diskutiert.

LinkedIn spiegelt unsere Gesellschaft: viel Kommunikation, wenig Gespräch; viel Beruf, wenig Berufung.
Das, was uns eigentlich verbinden sollte, wird zur Bühne für Selbstdarstellung.

Berufung in der Praxis – wo sie noch lebt

Gerade in Zeiten des Wandels zeigt sich: Ohne Berufung fehlt Orientierung.
Führung braucht heute mehr als Management – sie braucht Sinn.

Interim Manager arbeiten in der Regel aus Mission: auf Zeit, für Wirkung, mit Haltung. Sie kommen, um etwas in Bewegung zu bringen – nicht, um Karriere zu machen. In diesem Sinn verkörpern sie oft eher Berufung als Beruf. Das ist, zugegeben, meine Haltung als Interim Manager, aber mit der stehe ich nicht alleine.

Doch all das gilt weit über das Interim Management hinaus:
Berufung ist kein Privileg, sie ist eine Haltung – und sie kann in jeder Rolle gelebt werden.

Beruf und Berufung neu in Einklang bringen

35 Jahre Einheit erinnern uns: Einheit ist kein Zustand, sondern ein Prozess – genauso wie Veränderung.

Auch Beruf und Berufung müssen wieder zusammenfinden.
Wenn der Beruf dominiert, drohen Leere, Routine, Sinnverlust.
Wenn Berufung fehlt, verlieren wir Richtung.
Erst im Zusammenspiel entsteht Wirkung – für uns selbst, für andere, für das Ganze.

Mein Appell:

  • In der Politik: Berufung zum Gemeinsinn muss stärker zählen als Karrierelogik. Ich erlebe „Berufspolitik“ heute nur sehr selten als „Politik aus Berufung“.
  • In der Wirtschaft: Berufung zeigt sich dort, wo Menschen mit Haltung, Freude und Verantwortung arbeiten. Und sie beweist sich am meisten dort, wo Führung unter Druck gerät.
  • In der Gesellschaft: Berufung bedeutet Zuhören, Verbinden, Resonanz schaffen.

Veränderung ist das Lebensprinzip unserer Zeit. Aber erst Berufung macht sie menschlich.
Vielleicht ist das die eigentliche Aufgabe – 35 Jahre nach der Einheit:
nicht nur zusammen zu leben, sondern gemeinsam Sinn zu schaffen.