Und weshalb Führung auf Zeit der unterschätzte Erfolgsfaktor ist
Deutschland läuft – aber nicht im Gleichschritt.
Während manche Unternehmen Rekordergebnisse melden, wachsen, investieren und sich neu erfinden, kämpfen andere mit sinkender Produktivität, Überregulierung, Energiepreisen, Kulturproblemen und lähmender Bürokratie.
Die Wahrheit ist unbequem und anders als es die Schlagzeilen unterstellen :
Deutschland ist nicht in der Krise – Deutschland ist asynchron.
Ein Land der zwei Geschwindigkeiten, der zwei Realitäten, der zwei Zukünfte.
Die entscheidende Frage lautet nicht:
Wie steht es um die deutsche Wirtschaft?
Sondern: Warum gelingt es einigen Unternehmen, in Unsicherheit zu wachsen – während andere im eigenen System stecken bleiben?
Und: Welche Rolle spielt Führung – insbesondere Führung auf Zeit – in dieser Spaltung?
1. Vom DAX der Industrie zum DAX der Zukunft
Ein Blick auf die Struktur der deutschen Leitunternehmen zeigt den Wandel in Reinform:
Der DAX von 2010 war das Spiegelbild einer industriellen Vergangenheit – geprägt von Stahl, Banken, fossiler Energie und Chemie. Namen wie Thyssenkrupp, Metro, E.ON, Commerzbank oder Linde standen für Größe, Tradition, Stabilität.
Der DAX 40 von heute erzählt eine andere Geschichte:
Technologie, Gesundheit, Digitalisierung, Verteidigung, Premium und Biotech – mit Akteuren wie SAP, Siemens Healthineers, Infineon, Merck, Rheinmetall, Zalando.
Die Wertschöpfung hat sich verschoben – von fossilen Anlagen zu Daten, Software, Innovation und nachhaltigen Produkten.
Die Gewinner von heute haben Zukunft gemacht, während andere noch ihre Vergangenheit verwalten.
2. Familienunternehmen:
Die gleiche Dynamik – nur mit anderen Vorzeichen
Auch unter den Familienunternehmen gibt es zwei Deutschlands.
- Auf der einen Seite die Wachstumschampions:
Schwarz Gruppe (Lidl, Kaufland), Aldi, BMW und (bisher) Porsche, Würth, Bosch, Merck, Miele, Sartorius. Sie investieren, internationalisieren, digitalisieren – und wachsen Jahr für Jahr um Milliarden. - Auf der anderen Seite die Traditionshäuser, die stagnierten oder scheiterten:
Douglas, Gerry Weber, Praktiker, Karstadt, TUI, Thyssenkrupp. Sie hielten an überholten Geschäftsmodellen fest, verloren den digitalen Anschluss oder blockierten sich durch interne Machtspiele.
Familienunternehmen haben den Vorteil des langen Atems – aber auch die Gefahr des Stillstands. DAX-Konzerne haben die Ressourcen – aber oft die Bürde des Quartalsdenkens.
Entscheidend ist jedoch – anders als oft behauptet – nicht die Eigentümerstruktur. Entscheidend ist die Haltung an der Spitze: die Bereitschaft, sich zu hinterfragen, Risiken zu erkennen und Entscheidungen zu treffen, bevor sie erzwungen werden.
3. Drei Gründe, warum Unternehmen den Anschluss verlieren
1. Das „It won’t happen to us“-Syndrom
Kaum eine Krise kam überraschend. Dieselgate, Wirecard, Qualitäts- und Sicherheitsrisiken in Luftfahrt, Chemie, Energie – die Warnsignale waren da.
Aber sie passten nicht in das Erfolgsnarrativ.
„Bei uns ist das anders.“
„Das ist Panikmache.“
„Wir müssen liefern – nicht zweifeln.“
Diese Sätze klingen vertraut. In 30 Berufsjahren immer wieder gehört. Sie sind das Sedativum des Managements. Sie verdrängen Unsicherheit, weil sie kurzfristige Ruhe höher bewerten als langfristige Resilienz.
Aber: Wer Risiken nicht sehen will, wird von ihnen gesehen.
2. Silos – das zerlegte Bild der Realität
Noch gefährlicher als Ignoranz ist Fragmentierung.
- Das Risikomanagement erkennt geopolitische Abhängigkeiten.
- Die Kommunikation spürt Reputationsprobleme.
- HR sieht Vertrauensverlust und Fluktuation.
- Die Operations warnen vor Überlast und Qualitätsrisiken.
Doch keiner fügt diese Beobachtungen zusammen.
Jeder kennt seinen Ausschnitt – aber keiner sieht das Gesamtbild.
Genau hier entscheidet sich Führung:
Führung auf Top-Level ist die Kunst, Realität zu integrieren.
Wer nur Teile sieht, führt keine Organisation, sondern verwaltet Bruchstücke.
Wenn die Spitze keine gemeinsame Landkarte der Risiken hat, trifft sie Entscheidungen im Nebel. Statt Orientierung entsteht Mikromanagement.
Statt Strategie – Aktionismus.
Nebenbei übrigens:
Ich habe den Eindruck, dass die großen Unternehmensberatungen dieses Muster oft verschärfen.
Sie liefern Daten, Folien, Analysen – und erzeugen das Gefühl von Kontrolle.
Aber sie lähmen durch Komplexität, simulieren Aktivität und monetarisieren Unsicherheit.
Mit Krisen verdienen sie gut. Mit deren Lösung weniger.
3. Die dunklen Flecken der Führung
Die dritte Ursache ist die wohl unbequemste: das Selbstbild der Entscheider.
In deutschen Führungsetagen wird nach Power-Seiten gesucht – Durchsetzungsstärke, Strahlkraft, Exzellenz, Internationalität.
Doch kaum jemand fragt:
- Wie reagiert diese Person unter Druck?
- Welche ihrer Stärken kippen in Stress-Situationen ins Gegenteil?
- Wo liegen ihre unbewussten Risiken?
Diese „dunklen Flecken“ – Narzissmus, Kontrollzwang, Konfliktvermeidung, Überoptimismus und ein Menschenbild, dass Mitarbeiter wie Kinder behandelt – sind keine Charakterfehler, sondern unreflektierte Muster. Aber sie blockieren Veränderung.
Tools wie das hier schon mehrfach vorgestellte Process Communication Model (PCM) oder der Hogan Development Survey zeigen solche Risiken präzise – doch sie werden selten ernst genommen.
Die Folge: immer wieder die gleichen Profile in Spitzenpositionen – brillant, eloquent, aber krisenblind. Ein Versagen übrigens auch der großen Personalberatungen, die in ihren Personalempfehlungen oft eher unternehmenspolitischen Zwängen folgen.
4. Was gute Führung heute auszeichnet
Die Unternehmen, die wachsen, tun drei Dinge anders:
- Sie stellen Fragen, bevor sie Antworten suchen.
Sie hinterfragen Routinen, prüfen Widersprüche und nutzen Sparringspartner, um neue Perspektiven zu gewinnen. - Sie erkennen Trends als Signale, nicht als Störungen.
Sie begreifen KI, Nachhaltigkeit oder geopolitische Risiken nicht als Bedrohung, sondern als Frühwarnsystem für Entscheidungen. - Sie setzen Erkenntnisse konsequent um.
Sie übersetzen Analyse in Handlung, Komplexität in Klarheit und Diskussion in Entscheidung.
Gute Führung ist kein Charisma-Event.
Sie ist ein permanenter Prozess der Selbstkorrektur.
Und sie beginnt dort, wo man bereit ist, das eigene Weltbild in Frage zu stellen.
5. Interim Management: Führung auf Zeit, Wirkung für Dauer
Genau hier liegt das größte ungenutzte Potenzial der deutschen Wirtschaft: Interim Management, übersetzt: Führung auf Zeit.
Interim Manager sind Übersetzer zwischen den zwei Geschwindigkeiten
Sie kennen in der Regel beide Welten – Konzern und Mittelstand, DAX und Familienunternehmen.
Sie sprechen die Sprache von Kapitalmarktlogik und Kultur, Governance und Pragmatismus.
Und sie bringen eine Qualität ein, die intern oft fehlt: die Fähigkeit, Realität zu integrieren.
Interim Manager bringen Krisen- und Innovationserfahrung
Interim Manager kommen selten für Routine – sie kommen, wenn es ernst wird:
Transformation, Turnaround, Reputationskrise, Kulturwandel. Sie erkennen Muster, bevor sie eskalieren, und machen Organisationen wieder handlungsfähig – jenseits von Politik und Machtspielen.
Interim Manager sind Sparringspartner, keine Feuerwehr
Sie halten Top-Managern den Spiegel vor, erkennen Stressmuster, decken blinde Flecken auf – und helfen, sie produktiv zu machen.
Sie sind Sparringspartner, nicht Subunternehmer; Katalysatoren, nicht Kompensatoren.
Und, ehrlich gesagt, wir sind viele:
Rund 30.000 Interim Manager sind in Deutschland aktiv – in 15.000 bis 20.000 Mandaten pro Jahr. Ein enormes Innovations- und Leistungspotenzial, das in der Breite der Wirtschaft noch immer viel zu wenig genutzt wird.
Interim Management ist kein Notbehelf.
Es ist das fehlende Bindeglied zwischen Erkenntnis und Umsetzung, zwischen Strategie und Realität.
6. Fazit: Zwei Deutschlands – eine Führungsfrage
Die Spaltung in Gewinner und Verlierer ist kein Schicksal.
Sie ist das Ergebnis von Entscheidungen:
- Entscheidungen über Mut oder Angst,
- über Lernen oder Verteidigen,
- über Reflexion oder Selbstbestätigung,
- über Offenheit oder Besitzstand.
Die Zukunft gehört den Unternehmen, die sich selbst in Bewegung halten – und den Menschen, die das ermöglichen.
Deutschland hat keine Strategielücke.
Es hat eine Führungslücke – und ein noch ungehobenes Reservoir an Erfahrung, Klarheit und Umsetzungskraft in der Interim-Welt. Es ist jetzt an der Zeit, dieses Potenzial für das profitable Wachstum der Unternehmen zu nutzen!



