Wie Interim Manager Räume für Lernen, Energie und echte Führung schaffen
Es gibt Begriffe, die in Zeiten multipler Krisen fast zu weich erscheinen und gerade deshalb unterschätzt werden. „Growth Mindset“ ist einer davon. Nicht, weil der Begriff trivial wäre, sondern weil er im Ernstfall das Gegenteil dessen fordert, woran Organisationen gewöhnt sind: Verlangsamung statt Hektik. Mut statt Sicherheiten. Neugier statt Angst. Lernen statt Verteidigen.
Kaum eine Studie hat mich in letzter Zeit so nachdenklich gemacht wie die Analysen der Leadership-Professorin Heike Bruch, die im Handelsblatt-Interiew eindringlich beschreibt, dass mehr als drei Viertel der Unternehmen heute kollektiv überfordert sind. Nicht nur stark belastet, nicht nur herausgefordert, sondern strukturell überfordert. Ihre Forschung zeigt: Führung bricht nicht an Komplexität, sondern an fehlender Balance von Energie, Fokussierung und Entlastung. Führung gerät in Schieflage, wenn Resonanz fehlt, wenn Überlast zur Norm wird und wenn Führungskräfte zwischen Kontrolle und Rückzug pendeln.
Genau an diesem Punkt entsteht die eigentliche Herausforderung unserer Zeit:
Wie schaffen wir es, dass Manager und Teams in einer erschöpften Welt wieder lernen, wachsen und Verantwortung übernehmen können?
Wie ermöglichen wir ein Growth Mindset, wenn das System selbst in einem Fixed Mindset feststeckt?
Und: Welchen Beitrag leisten Interim Manager in dieser Lage?
Wir erleben es täglich: Interim Management ist längst nicht mehr Kapazität auf Zeit, sondern Führung auf Zeit. Wir stabilisieren, entlasten, strukturieren, ermöglichen Lernfähigkeit und schaffen Räume für Klarheit. Genau dort, wo die Organisation selbst dazu nicht mehr in der Lage ist.
Mehr als drei Viertel der Unternehmen sind kollektiv überfordert
Heike Bruchs Forschung ordnet die Überforderung klar ein: Sie ist kein individuelles Versagen, keine Frage des Talents oder der persönlichen Resilienz, sondern ein Systemeffekt. Hochdruck-Organisationen verlieren Energie, Fokus und Orientierung, oft ohne es zu bemerken.
Der Druck steigt, die Zeit schrumpft, die Komplexität wächst – und Führung verliert die Fähigkeit, Prioritäten zu setzen und wirksam zu handeln. Führungskräfte erleben innere Erschöpfung, die sie nach außen kaschieren. Teams funktionieren weiter, aber lernen kaum noch. Die Organisation liefert Ergebnisse, aber sie entwickelt sich nicht. Bruch beschreibt dafür ein einfaches, aber eindringliches Modell: die vier Energie-Fokus-Typen der Führungskräfte.
| Führungstyp | Energie | Fokus | Wirkung |
|---|---|---|---|
| Zielgerichtete Führungskräfte | hoch | hoch | schaffen Orientierung, geben Prioritäten, sind resonanzfähig |
| Busy Managers | hoch | gering | viel Aktion, wenig Wirkung; verlieren Prioritäten |
| Distanzierte | gering | hoch | wissen, was wichtig wäre, setzen es aber nicht um |
| Erschöpfte | gering | gering | heute ca. 55 %; neigen zu Rückzug oder autoritärem Verhalten |
Diese Typologie offenbart eine zentrale Wahrheit:
Ein erschöpftes System kann kein Growth Mindset hervorbringen.
Denn dort, wo Energie fehlt, fehlt Kreativität.
Wo Fokus fehlt, fehlt Verantwortungsübernahme.
Wo Überlast herrscht, entsteht Schwarz-Weiß-Denken statt Neugier.
Wo Erschöpfung dominiert, entwickeln sich autoritäre Reflexe oder resignative Muster.
Die entscheidende Frage lautet daher nicht nur: Wie können Menschen ein Growth Mindset entwickeln? Sondern: Welche Bedingungen braucht ein System, damit Menschen sich und ihr Unternehmen wieder positiv entwickeln können?
Was braucht Fåührung heute?
Warum ist Growth Mindset kein „Soft Skill“?
Führung ist heute weniger Managementaufgabe als Resonanzarbeit im Sturm. Sie verlangt:
- Verlässlichkeit statt Aktionismus
- klare, nachvollziehbare Prioritäten
- strukturierte Kommunikation statt intuitiver Reaktionen
- Mut zum Transparent-Machen eigener Unsicherheiten
– allerdings nachdem Orientierung gegeben wurde - die Balance zwischen Routinen und Innovationsräumen
- psychologische Sicherheit, um Lernen wieder möglich zu machen
Growth Mindset ist deshalb kein Soft Skill (so wird es oft verkürzt missverstanden), sondern ein Führungsprinzip, das in Krisen erst seine wahre Bedeutung entfaltet.
Growth Mindset heißt: Eine Organisation gestaltet Zukunft, statt sie zu verwalten.
Und genau bei dieser Herausforderung können Interim Manager einen signifikanten Beitrag leisten.
Was ein echtes Growth Mindset ausmacht
Growth Mindset besteht aus fünf Grundelementen:
1. Glaube an Entwicklung statt Festschreibung
Menschen und Organisationen können wachsen: nicht trotz Krise, sondern gerade durch sie.
2. Neugier und Ambiguitätstoleranz
Growth Mindset akzeptiert, dass Zukunft ungewiss ist. Lernen bedeutet, Unsicherheit zuzulassen.
3. Selbstwirksamkeit
Entwicklung entsteht, wenn Menschen spüren: Mein Beitrag macht einen Unterschied.
4. Ownership statt Delegation
Ein Growth Mindset führt dazu, dass Verantwortung nach oben, unten und zur Seite geteilt und übernommen wird.
5. Dialog- und Feedbackfähigkeit
Ohne Dialog kein Verstehen. Ohne Verstehen keine Entwicklung. Ohne Entwicklung kein Wachstum.
Diese fünf Elemente sind die Grundbausteine lernfähiger Organisationen und gleichzeitig sehr oft die ersten Opfer von Erschöpfung, Druck und Überlast.
Warum das Growth Mindset heute besonders gefährdet ist
Erschöpfte Organisationen verlieren sehr leicht genau die Bedingungen, die Wachstum ermöglichen. Vier Faktoren spielen dabei eine zentrale Rolle:
1. Polarisierung – der leise Feind der Lernkultur
Polarisierung erzeugt:
- starre Lager
- Feindbilder
- Reaktanz
- Verlust gemeinsamer Realität
- Abwertung anderer Perspektiven
In einem polarisierenden Klima wird Lernen zu einem Sicherheitsrisiko.
Man verteidigt Positionen, statt sie zu hinterfragen.
2. Erschöpfung – wenn Energie fehlt, fehlt Neugier
Dauerstress führt zu einer Dominanz der Schutzsysteme:
- weniger Kreativität
- weniger Reflexionsfähigkeit
- weniger Problemlösung
- mehr Angst
- mehr Defensive
Menschen funktionieren – aber sie lernen nicht.
3. Quick-Win-Kultur – Geschwindigkeit statt Reife
Interim Manager kennen das Dilemma: Es braucht rasche sichtbare Erfolge und gleichzeitig strukturelle Reife. Im Beitrag Die Quick-Win-Falle: Wie sich die Interim-Branche selbst entwertet hatte ist das kürzlich genauer erläutert.
Ein Growth Mindset jedoch verlangt Raum für:
- Experimente
- Hypothesen
- Scheitern
- iteratives Lernen
Kurzfristlogiken ersticken diese Räume oft.
4. Veränderungsmüdigkeit – das stille Gift der Transformation
Nach Jahren der Dauerkrise sinkt die mentale Transformationstoleranz.
Sätze wie „Das haben wir schon probiert“ oder „Das wird sowieso nichts“ sind weniger Ausdruck von Widerstand als von Erschöpfung.
Wie Interim Manager Räume schaffen, in denen Growth Mindset wieder möglich wird
Gerade Interim Manager – und besonders diejenigen mit Fokus auf Kommunikation, Change, Transformation und Marketing – leisten in dieser Situation einen einzigartigen Wertbeitrag. Und das aus drei Gründen:
Erstens: Wir kommen als reflektierte Außenperspektive ins System. Wir sind frei von internen Loyalitäten, Machtachsen und eingefahrenen Mustern. Dadurch erkennen wir Dynamiken, die intern nicht mehr sichtbar sind, und können sie klar benennen.
Zweitens: Unsere Rolle verbindet Struktur, Kommunikation und Kultur. Wir gestalten Dialoge, Entscheidungswege, Narrative und Führungsrhythmen – also genau die Elemente, die eine lernfähige Organisation ausmachen. Ein Growth Mindset entsteht nie isoliert, sondern immer in einem passenden kommunikativen und kulturellen Rahmen.
Drittens: Interim Manager arbeiten naturgemäß dort, wo Organisationen am empfindlichsten sind: im Wandel, in Unsicherheit, in Überlast. Wir verbinden strategische Perspektive, operative Entlastung und psychologische Sicherheit. Diese Kombination macht uns zu Katalysatoren eines Growth Mindset – gerade in erschöpften Systemen.
Deshalb stammen die folgenden Empfehlungen nicht aus einer idealisierten Zukunftsvision, sondern aus der Praxis: aus Transformationsprogrammen, aus überlasteten Führungssystemen, aus Konflikten, aus Krisen und aus Situationen, in denen Teams aufgehört hatten zu lernen, bis jemand von außen kam und den Raum dafür wieder öffnete.
1. Rücken freihalten – Entlasten, Sortieren, Stabilisieren
In einem Industriekonzern befand sich die Geschäftsführung in einem Dauersturm aus Anfragen, Ad-hoc-Entscheidungen und Konflikten. Führung war reaktiv statt gestaltend.
Wir führten ein:
- klare Entscheidungsroutinen
- definierte Kommunikationswege
- Priorisierungsmechanismen
- ein strukturiertes Lagebild
Ergebnis:
Die Geschäftsführung gewann Führungskraft zurück. Growth Mindset wurde möglich, weil das System wieder Luft bekam.
2. Resonanzräume schaffen – partizipative Führung ermöglichen
In einem Handelsunternehmen herrschte eine Kultur des Gegeneinanders. Veränderung wurde als Bedrohung erlebt.
Wir bauten:
- ein übergreifendes Stakeholder-Forum
- Dialogformate
- Erwartungsklarheit
- Feedback-Routinen
Ergebnis:
Lagerlogiken lösten sich auf. Prioritäten wurden verständlich. Lernen wurde wieder möglich.
3. Blockaden auflösen. Autoritäre und polarisierende Muster integrieren
Bei einem Automobilzulieferer in der Krise waren Führungskräfte unter Druck in autoritäre Muster gekippt. Das erschwerte nicht zuletzt die Neuausrichtung des Marketings- und Kommunikationsbereichs.
Wir etablierten:
- moderierte Reflexionsrunden
- Führungsfeedback
- Rollenklarheit
- transparente Entscheidungswege
Ergebnis:
Autorität blieb bestehen, wurde aber reifer. Alle Teams, vor allem das Marketingteam, gewannen Mut, wieder selbst Lösungen zu entwickeln.
4. Routine und Innovation in Balance bringen
In einem Familienunternehmen gab es nach einem Generationswechsel zu viel Aktionismus und zu wenig Struktur.
Wir führten ein:
- Gruppenweit verbindliche Standardprozesse
- klare Governance und Spielregeln in der bereichsübergreifenden Kooperation
- definierte Rollen
- Innovations-Workshops und spezielle Formate für New Business
Ergebnis:
Stabilität und Zukunftsfähigkeit wurden parallel gestärkt, ohne die DNA und Werte des Unternehmens zu verändern. Growth Mindset zeigte sich im Mut, beides gleichzeitig zu denken.
Fünf Erfolgsprinzipien, um ein Growth Mindset in erschöpften Organisationen zu etablieren
- Verlangsamung vor Beschleunigung
Lernen braucht Denkzeit. Denkzeit braucht Ruhe. Ruhe muss bewusst geschaffen werden. - Sprache neu kalibrieren
Sprache formt Kultur. Weniger Urteile, mehr Hypothesen. Weniger Defizite, mehr Potenzial. - Micro-Experimente einführen
Kleine, risikoarme Schritte erzeugen Momentum, Selbstwirksamkeit und Lernfreude. - Unsicherheit adressieren – ohne Orientierung zu verlieren
Gute Führung bringt Struktur und Ehrlichkeit zusammen. - Psychologische Sicherheit bewusst gestalten
Fragen, Kritik und Zweifel müssen erlaubt sein, sonst gibt es kein Lernen.
Fazit:
Growth Mindset erfordert Führung. Interim Manager sind Ermöglicher
Ein Growth Mindset entsteht nicht durch Appelle oder Workshops. Es entsteht durch Räume, Strukturen und Dialoge, die Lernen möglich machen, selbst in erschöpften Systemen.
Interim Manager spielen dabei eine besondere Rolle:
- Wir schaffen Klarheit, wo Komplexität erdrückt.
- Wir schaffen Resonanz, wo Polarisierung dominiert.
- Wir schaffen Energiepunkte, wo Erschöpfung regiert.
- Wir öffnen Räume, in denen Lernen wieder möglich wird.
Unternehmen sollten Führung auf Zeit stärker nutzen, weil es nachhaltig nützt und zu profitablem Wachstum befähigt. In einer Welt, in der mehr als 75 % der Unternehmen überfordert sind, ist die Verankerung eines Growth Mindset im gesamten Unternehmen eine besonders schwierige Führungsaufgabe. Wer sie meistert, schafft strategische Vorteile.



